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Dr. Franca Siegfried Schweizerische Akademie der Geistes- und Sozialwissenschaften
„Die Philosophen haben die Welt nur
verschieden interpretiert, es kommt darauf an, sie zu verändern“,
schrieb Karl Marx in den Feurbachthesen. Seine 11. und letzte dieser Thesen gab
all jenen Recht, welche die Nase voll hatten von Debatten, nächtelangen
hitzigen Diskussionen und theoretischem Wortstreit. Genug der Theorie – man
wollte tätig werden. Für die 1968er-Bewegung war die Nummer elf eine
willkommene, wissenschaftliche Grundlage, quasi die Initialzündung für die
Mobilisation der studentischen Jugend in aller Welt. Rein theoretisch war damals
die traditionelle Interpretation des Marxismus am Ende, das manifestierte sich deutlich
in den bürokratischen Modernisierungsregimes, etwa in der Sowjetunion, wie auch
in China. Hinzu kam die Vernichtung der ArbeiterInnenbewegung durch Faschismus
und Krieg – das „Proletariat als revolutionäres Subjekt“ hatte sich längst in
Luft aufgelöst.
http://www.mlwerke.de/me/me03/me03_005.htm
http://www.mlwerke.de/me/me03/me03_005.htm
Auf den Spuren des unsterblichen Propheten
„Die Revolte der
Jungen“ – eine umfassende Berichterstattung der Schweizer Diplomatie über die
globale Protestbewegung um 1968. Die Forschungsstelle Diplomatische Dokumente
der Schweiz (Dodis) publiziert zum 50. Jahrestag der 1968er-Bewegung den Band
Nummer 9 aus der Reihe „Quaderni di Dodis“. Schweizer Diplomaten berichteten
von ihren Aussenposten aus aller Welt nach Bern – wie, warum und wo Jugendliche
aus insgesamt 22 Ländern protestierten. „Das erfolgreichste
philosophisch-politische Leitbild der Revolte ist zweifellos der Marxismus, der
in der letzten Zeit eine eigentliche „Renaissance“ zu erleben scheint. Die
Anführer der studentischen Aktionen in allen westlichen Ländern stehen fast
ausnahmslos politisch links und berufen sich in irgendeiner Form auf die Lehre
von Karl Marx. Diese Entwicklung ist gewiss nicht der Sowjetunion oder dem
Einfluss der kommunistischen Parteien Westeuropas zuzuschreiben (die sich in
der Revolte eher zurückhaltend gezeigt haben und von der Jugend bereits zum
«Establishment» gezählt werden); sie erklärt sich eher aus dem tieferen,
humanen Gehalt der marxistischen Lehre.“ Die Jugend erkenne die Zustände, die
Marx schon vor hundert Jahren im frühkapitalistischen Westeuropa beobachtet
habe in ihrem eigenen Umfeld wieder: «Entfremdung», «Entmenschlichung» und «Verdinglichung»
als Folge der Technisierung der modernen Welt mit Computern, Massenkommunikation
und Satellitenstädten. Die Anziehungskraft des Marxismus, einer alten
Gesellschaftstheorie, beruhe nicht so sehr auf seiner Theorie: „Viele
Jugendliche sehen in ihm einen Ansporn zum Handeln. Der Marxismus bietet sich
als Wissenschaft an, weniger als Ideologie oder Religionsersatz.“ Die
Herausgeber dieses Bandes, Thomas Bürgisser und Sacha Zala der Forschungstelle
Dodis, haben die schriftlichen Quellen mit Fotos vom Einmarsch der sowjetischen
Truppen in Prag (August 1968) ergänzt. Der Band lässt sich gratis herunterladen: https://www.dodis.ch/de/pressemitteilungen/die-revolte-der-jungen
Gedruckte Exemplare können bei Amazon bestellt werden.
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Verrauchte Szenen
Man kann sich fragen, warum der radikale Denker „Made in
Germany“ die Einschaltquoten nach 200 Jahren, Marx wurde am 8. Mai 1818 in
Trier geboren, immer noch hochschnellen lässt. Im zweiten Deutschen Fernsehen
(ZDF) wurde der Film, „Karl Marx – der deutsche Prophet", am 2. Mai
ausgestrahlt: „Nun ist ein Dokudrama natürlich kein Marx-Lektürekurs, aber
warum soll man nicht auch eine ZDF-Produktion an höheren Massstäben messen“,
schreibt die deutsche Zeitung „die Zeit“. „Der deutsche Prophet, der
vieles besser macht als viele andere Reportagen über Marx, lässt leider auch
die Gelegenheit aus, die Bewegung anschaulicher zu machen, die das Werk des
Trierers bestimmt.“ Wer jedoch von den vielen Stationen im Leben von Marx mit
Frau und Kindern weiss, der muss anerkennen, dass der Drehbuchautor und
Historiker Peter Hartl die insgesamt acht Lebensmittelpunkte gut
veranschaulichte: Deutschland, Frankreich, Belgien und England – selten war die
Familie willkommen, oft polizeilich verfolgt, und sie landete in bitterer Armut
in London. Dort starb Karl Marx am 14. März 1883. Seine Schaffenskraft, seine
akribischen Werke, allein nur das berühmteste, „das Kapital“, für das er zehn
Jahre brauchte, kann in einer Abendproduktion von ZDF nicht erklärt werden. Die
empirische Grundlage für das „Opus magnum“ bot ihm der Bankencrash von 1857: In
London recherchierte und analysierte er als Journalist für die New York Daily
Tribune, Marx dachte, dass die Wirtschaft kollabierte. Er füllte drei Hefte mit
Statistiken, Notizen und Artikeln aus anderen Zeitungen. Letztere hatte er
teilweise abgeschrieben – als Linkshänder sind seine Schriften jedoch nicht
einfach zu entziffern. Was es zum ZDF-Film noch zu bemerken gibt: Die Schwaden
des Zigarrenrauches von Marx und seinen Mitdenkern zieht sich wie ein roter
Faden durch die Szenen. Es ist offensichtlich, dem Schauspieler Mario Aadorf
liegt die Rolle des revolutionären Propheten. Für alle, die den Film verpasst
haben ist der Video bis Mai 2023 verfügbar unter:
https://www.zdf.de/dokumentation/dokumentation-sonstige/karl-marx---der-deutsche-prophet-100.htmlhttps://www.zeit.de/kultur/film/2018-04/karl-marx-prophet-zdf-dokudrama-kommunismus-mario-adorf/seite-2
Marx als
Geschäftsidee
„Karl Marx lebt! Die längste Zeit seines Lebens verbrachte
Karl Marx in London, wo ein glühender Marxist auf die Spuren seines Vorbilds
führt“, schreibt die NZZ am 4. Mai 2018: Heiko Khoo, dessen Mutter aus der DDR
stammte, sichert mit seiner Verehrung auch noch seinen Lebensunterhalt. Die Firma
heisst, wie könnte es anders sein, Karl Marx Research Ltd. Bei Khoo buchen
Maturaklassen, linke Abgeordnete, Börsenmakler oder chinesische Touristen
Führungen durch London.
Zum Jubiläum kommen auch sechs neue Bücher auf den Markt. Der
Tages-Anzeiger hat sie am 17. April aufgelistet. Die Titel der Biografien sind
teilweise abenteuerlich: Der Unvollendete; Die Freiheit des Karl Marx; Herr der
Gespenster; Mythen über Marx oder einfach nur Karl Marx. Es ist offensichtlich,
dass kein anderer Philosoph die Geister so beschäftigt, wie er. Was er
geschrieben hat, steht für Wahrheit, und was bisher nicht vorgefallen ist, das
könnte noch geschehen. Jedenfalls haben sich Stadtväter von Trier, der
Heimatstadt von Marx, zum Jubeljahr etwas Handfestes aber auch Hilfloses ausgedacht
– Ampelmännchen mit dem Charakterkopf von Marx...
https://www.nzz.ch/international/karl-marx-lebt-ld.1382846https://www.tagesanzeiger.ch/zeitungen/was-bleibt-von-karl-marx/story/22629668
Jung und Visionär
Werner Plumpe, Professor für Wirtschafts- und
Sozialgeschichte der Universität Frankfurt am Main, beschreibt im Magazin
ZEITGeschichte 3/2018 wie Karl Marx und Friedrich Engels zusammen das Manifest
der Kommunistischen Partei verfassten: „(...) erscheinen die beiden Autoren als
scharfsinnige Prognostiker der kapitalistischen Globalisierung, die sich
seither vollzogen hat. Bis ins Detail nehmen sie – vor allem Marx, der die
wesentlichen Teile beisteuerte – die Gegenwart vorweg, auch wenn sie den
verschlungenen Gang der Geschichte und die grossen Konflikte des 20.
Jahrhunderts nicht kennen konnten.“ Werner Plumpe beschreibt die beiden
Philosophen in einer Art Hellsichtigkeit, wie sie 1847/48 eine Hommage an die
„Bourgeoisie“ verfassten, und sie auch eine allseitige Abhängigkeit der
Nationen prophezeiten: „Und die geistigen Erzeugnisse der einzelnen Nationen
werden Gemeingut. Die nationale Einseitigkeit und Beschränktheit wird mehr und
mehr unmöglich, und aus den vielen nationalen und lokalen Literaturen bildet
sich eine Weltliteratur...“
Marx war damals 29 Jahre alt, Engels drei Jahre jünger – die
beiden jungen Denker erkennen, dass der Kapitalismus wohl grenzenlos ist.
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