Von virtuellen Welten und Debatten über die Digitalisierung

Dr. Franca Siegfried Schweizerische Akademie der Geistes- und Sozialwissenschaften
Die Zeit „zwischen den Jahren“ ist gut zum Sinnieren. Darum schreiben Journalisten, Zukunftsforscher und andere Experten in epischer Länge, was uns noch alles erwarten wird. Ende 2017 richtet sich der Fokus auf die Digitalisierung. Am Silvester lesen wir in der NZZ am Sonntag, dass Japan das Labor der Zukunft ist. Mit einer Geburtenrate von 1,5 Kindern und einer restriktiven Einwanderungspolitik ist Japans Demografie aus dem Lot geraten. Die Nation setzt nicht mehr auf Nachwuchs, sondern auf Roboter. Nicht zu unterschätzen ist die Technologieverliebtheit der 127 Millionen Japaner, etwa Aibo, der Hund von Sony, der nie Gassi gehen will und 1999 auf den Markt kam – damals eine Weltsensation.

Aktionsangebot Liebe
Der Jahresrückblick des Tagesanzeigers beginnt mit Hashtag, einem Metadaten-Marker: Das digitale Produkt – Best-of-App #12 – wird als Magazin gedruckt. Darin spricht der Zukunftsforscher Matthias Horx über Datingplattformen. „Sie suggerieren, dass Partnersuche eine Art Konsumaktion ist: Nimm dir das Beste zum günstigsten Preis. Man wählt vom Sofa aus einen Kandidaten aufgrund von rationalen Kriterien, die von Matching-Algorithmen generiert werden. Es ist der Versuch, die Liebe zu planen und zu kontrollieren.“ Dieser Konsummodus löse eine Vergleichspanik aus, die zur „Liebesunerlöstheit“ führe. Es könnte ja noch ein Besserer um die Ecke kommen. Liebe ist aber das Abenteuer, das Einmalige in einer Person zu sehen – ohne ihn oder sie ständig zu vergleichen.“ Mit Algorithmen lässt sich das Liebesgeheimnis nicht lösen, so die Einschätzung des Zukunftsforschers und Romantikers Horx.

Langeweile ist die Signatur unserer digitalen Zeit
Manfred Schneider, ein emeritierter Literaturwissenschafter, sorgt sich im Zeitalter der Digitalisierung um die politische Langeweile, weil sich die Politik nur noch als öffentliches Theater präsentiere (NZZ). Es gehe um Gut und Böse – Richtig oder Falsch. Mit diesen Bedingungen lassen sich politische Unterhaltungen steigern: „Wenn jetzt die Politiker in einem Atem nach beschleunigter und verbesserter Digitalisierung rufen, wofür ja einiges spricht, dann arbeiten sie auch mit an der Uniformierung der Wirklichkeit.“ Wir sollten die verschiedenen Wirklichkeiten, die gleichförmig über unsere Bildschirme laufen, nicht gedankenlos nach ihrem Unterhaltungswert absuchen, sondern nach Bedeutung für unsere persönliche Erfahrung und Einsicht unterscheiden.

Die Schweiz hängt das Silicon Valley ab
Titelt am Silvester die NZZ am Sonntag. Die Regierung im Kanton Zug kennt keine Langeweile, in der Region entwickelt sich im Blockchain-Boom ein „Crypto Valley“. Wöchentlich reisen Delegationen aus USA und China nach Zug. Diese Experten glauben an Blockchain als weitere Erleuchtung am Digitalisierungshimmel. Die Bundesräte Schneider-Ammann und Maurer lancieren vorsorglich eine Task-Force. Werden die Behörden mit dem beschleunigten Tempo der Branche mithalten können? Gefordert sind liberale Regulierungen, die Risiken mindern und Rechtssicherheiten ermöglichen: „Wir setzen so weit als möglich auf Selbstregulierung“, sagt der Zuger Regierungsrat Michel. „So kann rascher und effizienter auf Veränderungen in diesem sehr dynamischen Geschäftsfeld reagiert werden.“

Digitalisierung revolutioniert den Handel
Seit Weihnachten ist das SAGW-Bulletin 4/17 „Auswirkungen der Digitalisierung“ im Netz und gedruckt. Thomas Rudolph, Professor für Betriebswirtschaftslehre und Marketing der Universität St. Gallen, macht sich Gedanken über den Handel der Zukunft. „Neben den zusätzlichen Online-Vertriebskanälen, einer personalisierten Kommunikation und noch besseren Serviceleistungen durch eine stärkere Vernetzung vieler Computer (das sogenannte Internet of Things) erweitern sich auch die Ertragsmodelle.“ Das Warengeschäft mit üppigen Margen bekommt Konkurrenz: Was sich bei Autos in Form von Car-Sharing-Angeboten längst etabliert hat, wird sich auch in anderen Wirtschaftszweigen etablieren. Das Abo-Modell, bei dem sich der Kunde nicht mehr aktiv in den Kaufprozess einbringt, wird bei Inspirationskäufen von Kosmetik, Schmuck und Kleider wichtig. Das Geld fliesst dann vor allem über Monatsraten, Transaktionsgebühren, Zusatzverkäufen in Online-Shops und durch den Verkauf von Kundendaten an Zulieferer. Die Digitalisierung revolutioniert die Handelstätigkeit mit einer neuen Vielfalt – die Tage des einfachen Ankaufs und Verkaufs gegen Geld sind gezählt.

#digitale 21
Trotz all den Berichten von Journalisten, Zukunftsforschern und Experten lässt sich die Zukunft kaum erahnen. Ein Glücksfall, sonst hätte die Langeweile nach Professor Schneider das Ausmass einer Pandemie. Unbestritten ist, dass wir mitten in einer spannungsreichen Transformation stecken, die den privaten und beruflichen Alltag umgestaltet und die Forschung zu Höchstleistungen antreibt. Die Auswirkungen der Digitalisierung auf Ausbildung, Lernen und Arbeiten im 21. Jahrhundert thematisiert der Kongress #digitale21 im kommenden April in Lugano. Protagonisten aus Wirtschaft, Politik und Forschung werden sich austauschen – nicht virtuell, sondern face-to-face: https://www.digitale21.ch/

Nein Danke!
Zukunftsforscher Matthias Horx bestätigt, dass in Japan 70 Prozent der ledigen Männer und 60 Prozent der Frauen zwischen 18 und 34 Jahren kein Liebesverhältnis haben. Sie leben ihre Sexualität meistens in virtuellen Welten. Männer finden Frauen anstrengend, teuer und fremd. Umgekehrt langweilen sich Frauen mit den Männern. „In der Kollektivgesellschaft Japans zählen vor allem Pflicht, Ehre und Rituale, in denen das Selbst kaum vorkommt...“, sagt Horx. In der romantischen Liebe lebt jedoch die Idee von einem Selbst. Ist die Digitalisierung der Impfkristall der Gender-Isolation in Japan? Wohl kaum. Ist Japan wirklich das Labor der Zukunft? Nein Danke! Darum treffen wir uns am Kongress #digitale21 in Lugano.

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