Dr. Franca Siegfried Schweizerische Akademie der Geistes- und Sozialwissenschaften
„Die Frauen sind jung, sie stammen aus dem Kosovo, aus Sri
Lanka oder der Türkei, und sie haben das Leben vor sich. Doch dann wird über
sie entschieden. Sie werden vergeben, vermittelt und verschachert. Was das
heisst, wissen wir alle: Es bedeutet Gewalt, Missbrauch und Gleichgültigkeit.
Weil zu Viele wegschauen“, sagt Bundesrätin Simonetta Sommaruga am Praxistag im
Rahmen des Bundesprogramms Bekämpfung Zwangsheiraten. „Wenn wir über Zwangsehen
sprechen, sprechen wir darum nicht nur über schreckliche Einzelfälle. Wir
sprechen über Milieus, für die Gewalt gegen Frauen und Unterdrückung
selbstverständlich sind. Denn es hat Tradition. Das macht den Kampf der
Behörden gegen die Zwangsehen so schwierig.“
Von Fakten, Dunkelziffern
und patriarchalischen Strukturen
Vom Januar 2015 bis letzten August wurden insgesamt 900 Fälle von Zwangsheiraten in
unserem Land registriert. 80 Prozent der Betroffenen sind weiblich, knapp ein
Drittel minderjährig. Drei Viertel der Opfer sind in der Schweiz geboren oder
hier aufgewachsen. Die meisten Hochzeiten wurden jedoch im Ausland vollzogen – oft
während den Sommerferien. Im Bericht des Bundesrates vom 27. Oktober 2017 steht
es schwarz auf weiss, wie verbreitet die Zwangsehe in unserem Land ist – über
Dunkelziffern kann nur spekuliert werden. Bundesrätin Simonetta
Sommaruga erzählt in ihrer Rede auch von einer jungen Frau, die sie persönlich
kennt: „Sie ist eine Kosovarin, und sie hätte gegen ihren Willen verheiratet
werden sollen. In ihrer Angst hat sie sich an ihre Lehrerin gewendet, gerade
noch rechtzeitig vor den Sommerferien. Die Lehrerin hat die Behörden
eingeschaltet. Der Zwangsehe ist die Frau dadurch entkommen. Gleichzeitig hat
sie ihre Familie und ihr Umfeld verloren – und das mit 15 Jahren.“ Der NZZ sagt
die Basler Ständerätin Anita Fetz (31.10.2017): „Daraus jedoch zu schliessen,
dass der Islam schuld sei an den Zwangsheiraten, ist zu einfach.“ Die
Wirklichkeit sei viel komplexer. Die Ständerätin sieht das Problem in den
patriarchalischen Strukturen verankert. „Noch bis ins 20. Jahrhundert war bei
uns in reichen Schichten die Zwangsverheiratung üblich – trotz Aufklärung.“
Gesetz gegen Zwangsehen
„Durch eine Zwangsheirat werden elementare
Persönlichkeitsrechte verletzt.“ Das Bundesgesetz über Massnahmen gegen
Zwangsheiraten ist am 1. Juli 2013 in Kraft getreten. Der Bundesrat selber lancierte
eine Bekämpfung von Zwangsheiraten zwischen 2012 und 2017 mit Beratungsstellen
und Netzwerken. Der Bund wird in den nächsten vier Jahren eine Kompetenzstelle
mit bis zu 800‘000 Franken unterstützen. Unter anderem wird der Bundesrat auch die
Wirksamkeit der neuen Bestimmungen im Zivilgesetzbuch (ZGB)1 zum Schutz der
Opfer von Zwangsheiraten evaluieren, dazu gehören auch Regelungen, welche
Minderjährigenheiraten betreffen.
Nachhaltige Ziele der UNO für Frauen
Das Problem
der Unterdrückung und Gewalt gegen Frauen steht auch auf der Agenda der Sustainable
Development Goals (SDGs). Die
UNO fordert von allen Mitgliedstaaten, dass sie 17 Ziele für eine nachhaltige
Entwicklung bis ins Jahr 2030 erreichen. Mit den SDGs müssten die drängendsten
Probleme der Welt gemeinsam gemeistert werden. Im Fall „Gewalt gegen Frauen“ manifestiert
das Ziel Nummer fünf einen brisanten Handlungsbedarf – der auch für die Schweiz
zutrifft, wie aktuelle Zahlen
beweisen. Deshalb organisiert die SAGW am 15. Februar 2018 an der Universität
Fribourg eine Tagung „Gewalt
gegen Frauen in der Schweiz – von hier aus, wohin?“: Auf dem
Programm stehen Kurzreferate über Forschungsstand, politische und rechtliche
Lage, sowie mögliche Massnahmen und Prävention. Die Themen der Tagung sind Menschenhandel mit
sexueller Ausbeutung, Zwangsheirat, Genitalverstümmelung und häusliche Gewalt.
Engagierte Frauen für Frauen
Bina
Agarwal konnte beweisen, dass die Fähigkeit der Frauen, Land zu besitzen und zu
erben, eine signifikante Abschreckung gegen eheliche Gewalt darstellt. Die
gebürtige Inderin ist Professorin für Entwicklungsökonomie und Umwelt der
Universität Manchester im Nordwesten Englands. Sie hat mit ihren Studien
wissenschaftlich aufgezeigt, wie sich die Benachteiligung der Frauen auf die
Gesellschaft auswirkt. Dabei stellt die Ökonomin nicht nur innerfamiliäre
Beziehungen in Frage, sondern sucht nach neuen Modellen für soziale Normen und
Eigentumsverhältnisse, welche die Verhandlungsmacht von Frauen verbessern. Damit
ermöglicht Agarwal in den Disziplinen Gender und Entwicklung neue
intellektuelle, wie auch politische Wege: Im Jahr 2005 wurde das Hindu-Erbrecht
in Indien zugunsten der Frau angepasst. Bina Agarwal wird am 17. November im
Bundeshaus der internationale Balzan-Preis überreicht. Passend zu Agarwals
Mission stammt der Preis, dotiert mit 750'000 Schweizer Franken, aus dem Erbe
einer Frau. Angela Lin Balzan gründete mit dem Erbe ihres Vaters Eugenio Balzan
eine Stiftung zur Förderung der Wissenschaft.
Vertuschte Narben in einem patriarchalen Land
Jedes Jahr sterben in Russland mehr als 14’000 Frauen an
häuslicher Gewalt. Ein Film über die Einsamkeit und die Grenzerfahrungen
russischer Frauen macht sichtbar, wie dringend der Handlungsbedarf weltweit ist
(Weltspiegel im ARD, 11.11.2017). Er zeigt, wie sich das Leben der Frauen in einem
patriarchalen Land verändert, das sich von sowjetischen Idealen der Gleichheit
zwischen Mann und Frau entfernt. Der Film zeigt auch, wie Frauen nach Wegen
suchen, um ihre Erlebnisse zu vergessen. Zum Beispiel Jewgenia Zakhar: Sie
tätowiert Frauen über Stich- und Schussnarben, die ihnen Männer zugefügt haben.
Narben auf der Haut lassen sich mit Tattoos überdecken. Aber wer wird sich um
die Narben der geschundenen Seelen kümmern?
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