Zum Staunen über Pracht und Macht

Dr. Franca Siegfried Schweizerische Akademie der Geistes- und Sozialwissenschaften
Es gibt nicht Innenarchitektur und Aussenarchitektur. Architektur ist immer ein Ganzes. Architektur ist auch keine Skulptur“, sagte Christoph Gantenbein in einem Interview. Er hat zusammen mit Emanuel Christ das Landesmuseum bzw. das Nationalmuseum in Zürich erweitert und den Neubau des Kunstmuseums Basel entworfen. Am Samstag den 9. September werden Christ und Gantenbein über ihre Projekte am Europäischen Tag des Denkmals berichten. Das Büro der Architekten ist im geschichtsträchtigen Haus der Seidenbandfabrik Senn in Basel untergebracht. Hier ratterten einst Webstühle, damit sich die europäische Hautevolee mit schimmernden Bändern schmücken konnte.

Versteinerte Macht
Mit „Macht und Pracht“ präsentieren sich die Europäischen Tage des Denkmals am Samstag 9. und Sonntag 10. September. Ein 265 Seiten starker Führer nach Kantonen gegliedert, zeigt auf, wo was los ist. Bundesrat Alain Berset schreibt im Vorwort: „In Bauwerken wird Macht zu Stein. In der Architektur sind immer Herrschaftsverhältnisse eingeschrieben.“ Der Bundesrat betont auch, dass Baudenkmäler uns helfen zu verstehen, wer wir waren und wer wir sind: „Ratshäuser und Schulhäuser zum Beispiel erzählen immer auch von Wertvorstellungen.“ Darum treffen sich pädagogisch Interessierte am Sonntag im Schulhaus Amriswil im Thurgau. Dort werden die beiden Professoren Jürgen Oelkers und Damian Miller über die Macht in der Pädagogik diskutieren. Und in Schwyz kann sich die Bevölkerung ein Bild machen, wie die politische Macht in ihrem Kanton haust: Am Samstag wird Denkmalpfleger Dr. Thomas Brunner durch das Regierungsgebäude führen.

Hinter Gittern
Inspiriert von den Europäischen Tagen des Denkmals «Macht und Pracht» berichtet die Fachzeitschrift k+a (Kunst und Architektur) über Architektur und Geschichte von Schweizer Haftanstalten. Bis weit ins 20. Jahrhundert waren in Stadttoren, Schlössern oder Klöstern oftmals Gefängnisse untergebracht. Neben den umfunktionierten Bauten entstand jedoch auch die erste Justizvollzugsanstalt im aargauischen Lenzburg mit einer radialen Gefängnisbauweise. Im Jahr 1864 verfügte Lenzburg über das modernste Gefängnis in Europa. Heute ist es ein Sinnbild der modernen Disziplinargesellschaft, gemäss dem französischen Philosophen Michel Foucault, der sich über „Die Geburt des Gefängnisses“ Gedanken machte.

Kulturelles Erbe für morgen
Jean-François Steiert, Präsident der Nationalen Informationsstelle zum Kulturerbe NIKE, beschreibt im Führer des Denkmaltages, wie Kathedralen, Schlösser und Museen Teil unseres Daheims sind.
„Solche Bauten sind Wahrzeichen, Orientierungspunkt – auch für uns selber in dieser Gegenwart, in dieser Gesellschaft. Das ist der Wert, der diesen Gebäuden innewohnt.“ Damit meine er nicht etwa die Kosten des Unterhaltes, was in der Politik oft Debatten auslöst, sondern es gehe ihm um den politischen Diskurs über das kulturelle Erbe. „Unsere Gesellschaft hat die Pflicht, den nächsten Generationen geschichtliches Bewusstsein auch mit gebautem Erbe zu vermitteln – sei es durch die notwendigen Aufwendungen für die Pflege des Bisherigen oder durch den Mut, heute gesellschaftliche Werte durch Bauten zu illustrieren, die morgen zum Erbe gehören werden.“ Jean-François Steiert hat wohl auch ein Faible für moderne Architektur. Wer neues bzw. zukünftiges Erbe besichtigen möchte, der muss im Denkmal-Führer lange blättern. Nur in Basel scheint genügend Geld zu wohnen, das die Macht hat, sich in Stein, oft auch in Glas und Stahl zu verewigen: Basel – St. Johann, ein neuer Stadtteil entsteht vom Lysbüchel zu VoltaNord, Seite 58.

Noblesse
Wer viel Pracht bestaunen möchte, der sollte nach Oberhofen an den Thunersee reisen. In diesem Schloss residierte einst Grossfürstin Anna Feodorowa nach ihrer Flucht aus St. Petersburg. Am Sonntag den 10. September drehen sich die Schloss-Führungen um die Pracht des Hauses: Elegante Möbel, orientalischer Rauchsalon, Seidentapeten und die Magie der alten Mauern als stumme Zeugen einer bewegten Epoche. Im Schlosspark flanierten damals die noblen Herrschaften gerne auf Kieswegen zwischen Rosen und Buchs mit Blick auf den Thunersee.

Plädoyer für das Staunen
Diese zwei Tage im Zeichen der Pracht machen uns deutlich, in welch entzauberten Welt wir leben. Rationalisierung, Produktivität, Gewinnmaximierung und Digitalisierung bestimmen den Alltag. Herzschrittmacher können gehackt werden, Paare finden sich im Internet und Romantik ist ein Relikt aus alten Zeiten. Seidentapeten sind längst passé, Seidenbänder zieren allenfalls noch Pralinenschachteln. Beim Urban Gardening blühen keine Rosen, sondern Zucchetti. Wir sind Teil einer Welt ohne Mysterien, fast alles ist in der Bedeutung von uns selber erschaffen und erfunden worden. Ohne Mysterium verkümmert jedoch unsere Fähigkeit zu staunen, darum hat Ashley Curtis ein Plädoyer für das Staunen geschrieben. Curtis Gedanken sind zwar nicht in Stein gehauen, aber bewundernswert ist sein Erbe auf Papier allemal. Eigentlich hat er das Plädoyer 1978 als Philosophiestudent der Universität Yale (USA) entworfen und wurde von seinen Professoren des Plagiats bezichtigt. Ernüchtert brach Curtis sein Studium ab und trug fast vierzig Jahre lang seine Gedanken übers Staunen mit sich, bis er sie vor zwei Jahren niederschrieb. Jetzt sind sie unter dem Titel „Irrtum und Verlust“ erschienen (Kommode Verlag, Zürich).

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