„Dörflischweiz“ oder „Burgenschweiz“? Nationale Mythen um 1900 neu gesehen

Von Elisabeth Crettaz-Stürzel, Dr. phil., Kunsthistorikerin, Zinal und Fribourg im Juni 2015

Dörflischweiz oder Burgenschweiz? Ich habe sie beide gern. Die herzigen kleinen Dörfer, mit ihren Geranien und Shops. Und die grossen aufragenden Burgen, mit ebenfalls Geranien und Shops. Am liebsten an einem See gelegen oder vor schneebedeckten Bergen in der Ferne. Man hört Kuhglocken und Alphornklänge und sieht Trachtenfrauen und Sennen im costume du pays. Dazu ertönt das sehnsuchtsvoll intonierte le ranz des vaches („loyba“ im Patois), die aus dem 18. Jahrhundert stammende Nostalgie Hymne des Greyerzerlandes, die Schweizer Reisläufer anstimmten und aus lauter Sehnsucht nach der Heimat aus fremden Militärdiensten desertierten. Das Soldatenlied wurde in Frankreich verboten. „Heimweh“ wurde übrigens als eine Schweizer Krankheit angesehen. Heute ist das Lied der Freiburger Sennen am 1. August in der Romandie eine zweite Nationalhymne. Es sind jetzt – und waren es vorgestern vielleicht auch schon – oft pseudomuseale Welten mitten in einer idyllischen Landschaft, sozusagen Freilichtmuseen in situ. Die Dörfli- und Burgenschweiz wird heute von der Tourismusindustrie entdeckt und dient als wertsteigernde Freizeitkulisse für Fremde und Einheimische. Weidende Kühe, Ziegen und Schafe dienen der Belebung und erfreuen Kinderherzen. Die Grand Tour of Switzerland, 2015 herausgegeben von einem österreichischen Urlaubsmagazin in Zusammenarbeit mit „Schweiz Tourismus“, wirbt im ersten Satz mit dem Bonmot „Die Schweiz existiert nicht“ und beweist auf den nächsten 85 Seiten genau das Gegenteil: La Suisse existe bel et bien – und zwar für alle, die dafür zu zahlen bereit sind.

Die Markenzeichen der Schweiz
Einige Highlights der aktuellen Grand Tour of Switzerland waren auch schon um 1900 „in“: Das reizvolle Berner „Chaletdorf Gstaad“, das typische Walliser Bergdorf Grimentz im Val d’Anniviers (Eifischtal) mit seinen von der Sonne geschwärzten altertümlichen Strickbauten, das Waadtländer „Wasserschloss“Chillon bei Montreux am Genfersee, die „Ritterromantik“ im aargauischen SchlossHallwyl – von dem es im Landesmuseum ein erstaunliches Sommermodell mit grünen Bäumen und ein noch erstaunlicheres Wintermodell mit Schnee auf den Dächern gibt – oder das „Märchenschloss Landesmuseum“ auf den Zürcher Platzspitz. An dessen Fassade gegen die Gleise des Hauptbahnhofs, ganz oben in der Reihe der Reliefporträts, schaut der erste Museumsdirektor Heinrich Angst mit seiner stark umrandeten Brille einen beim Warten auf dem letzten Perron ernst an. Er hält einen Kachelofen unterm Arm, der wohl in einem der typischen spätgotischen Schweizer Schnitzstuben stand, für das das Nationalmuseum für Eidgenossen bei seiner Eröffnung 1898 berühmt war. Heute heissen sie Periodrooms und sind immer noch eine Attraktion des Schweizer Nationalmuseums in Zürich, dem allerdings die Märchen zugunsten eines derzeitigen Modernitätsrausches etwas abhandengekommen sind. Die oben genannten Orte sind den Röstigraben überwindenden Markenzeichen der gesamten Schweiz, zumindest für Touristen. Aber gehörten sie früher und gehören sie heute noch zur nationalen Identität für die Schweizer selbst?

Identitätsstiftende Alpen- und Dörfliwelt
Pour le Village“ übertitelt Georges de Montenach, stolz daherkommend als „Député au Conseil des Etats suisse“ in Bern, 1916 seinen berühmten Aufruf zum Erhalt des Schweizer Dorfes und Bauerntums. Auf nicht weniger als 560 Seiten tut er das. Und gekonnt. Er zelebriert die „Grösse der vielfältigen Kleinheit“, la Grandeur de la Petitesse (Bernard Crettaz) als typisch Schweizerisch – dies, als Romand vielleicht mit Blick auf die sprachverwandte Grand Nation Frankreich nebenan, die gerade gegen Deutschland im Krieg steht. Das Dörfli oder Village Suisse, immer in den Alpen gedacht, kondensiert seit dem 18. Jahrhundert die alte helvetische Berg-, Bauern und Hirtenidylle, die vom vorrevolutionären und aristokratischen Europa aus gesehen das vermeintliche unabhängige Leben der Alpenbewohner – ohne Aristokratie und Tyrannen – mit Demokratie und Freiheit gleichsetzt und die „freien Schweizer“ in der erhabenen Natur der Berge bewundert. Demokratie pur. Die Gleichung heisst Dorf+Berge=Freiheit. Die AufklärerInnen aus ganz Europa und der Schweiz, darunter Jean-Jaques Rousseau (verbreitet den Begriff vom romantischen „chalet“), Albrecht von Haller (Bestseller Gedicht„Die Alpen“), Literaten wie Johann Wolfgang von Goethe (Schweizer Reisen) und Friedrich Schiller (Schauspiel „Wilhelm Tell“) oder Salonnières wie die Holländerin Isabelle de Charrière in Cortaillod NE und Julie de Bondeli in Bern machen daraus den helvetischen Freiheitsmythos, der im vorrevolutionären Europa den „Befreier“ Wilhelm Tell zelebriert. In der Malerei machen dies beispielsweise die Maler und Malerinnen der Ecole de Savièze im Wallis (u.a. Marguerite Burnat-Provins) oder Albert Anker aus Ins im Berner Seeland. Auch in Liedern („Mon village là bas en val d‘Anniviers“ von Jaques-Dalcroze) wird diese freiheitliche Alpen- und Dörfliwelt verklärt und wirkt beim gemeinsamen Singen kantonal wie national identitätsstiftend. Und die bäuerliche Dörfliwelt in den Bergen ist gesund. In dem Kultroman von Thomas Mann „Der Zauberberg“ (La montagne magique) kommt Heilung und Gesundheit vom Berg. Rütli, Tell und Heidi sind ein Trio. Die Schweiz existiert, und wie. Zumindest als wunderschöne Bastelei (le bricolage du joli, Bernard Crettaz).

La Village Suisse – ein Publikumsmagnet
Doch vor allem auf der Schweizer Landesausstellung 1896 in Genf wird das inmitten der
Rhonestadt auf 23‘000 m2 künstlich installierte Village Suisse ein Publikumsmagnet – und zu einem Mythos verklärt. Obwohl es ganz banal mit einer echten Kuhherde anfing, die auf der nationalen Expo 96 als Teil der Landwirtschaftssektion gezeigt werden sollte. La vache – un symbol national. Und für die Kühe baute man dann Ställe, stellte Sennen ein und führte Wasser her. Daraus entstand dann ein fast echtes Ausstellungsdorf um eine Kirche: Mit hunderten von Bewohnern in Trachten und einer 22 Mann umfassenden Polizeitruppe. Man betrat es auf einer Kopie der Luzerner Kappelenbrücke, konnte 56 Bauten aus Pappmaché bestaunen, deren Fassaden aus allen Teilen der Schweiz kopiert worden waren, sowie 18 angekaufte und dorthin versetzte originale Chalets, die meisten davon aus dem Val d’Anniviers im Wallis. Das Bergdorf Grimentz – auch heute beliebter Touristenort mit Ski im Winter und einem Geranienwettbewerb im Sommer – wurde schon von den Genfer Ausstellungsorganisatoren als das typische Schweizerdorf erkannt und beliebt gemacht. Kein Village Suisse ohne Wasserfall, und so wurde mitten in der Stadt Genf ein Berg mit einer künstlichen cascade gebaut (6 Million Liter pro Tag flossen da unter!), und im Innern konnte man dann ein Riesenrundbild aus dem Berner Oberland bewundern (leider in Amerika um 1920 verbrannt). Das Genfer Erfolgsmodell Village Suisse von 1896 wurde dann 1900 auf der Weltausstellung in Paris vor einem internationalen Publikum wiederholt. Später wurde es noch auf den Landesausstellungen in Bern 1914 und Zürich 1939 („Landi“) in anderer Form wiederholt, aber jetzt nicht mehr als helvetischer Mythos, sondern als Schweizer Baumodell im reformbewegten Heimatstil (1914) beziehungsweise als nationales Identifikationsobjekt im Sinne der geistigen Landesverteidigung gegenüber fremden Mächten (1939), da jeweils ein grosser Krieg bevorstand. Nationale Mythen einen nach Innen über den Röschtigraben hinweg.

Die Schweiz – kein Burgenland...
Gleichzeitig mit dem Idealbild Dorf rücken seit dem 19. Jahrhundert wieder vermehrt die Burgen als geschichtliche Zeugnisse in den öffentlichen Blickpunkt. Aber im Gegensatz zu den der Schweiz benachbarten grossen Nationen wie Frankreich, das Deutsche Reich und die Habsburger Doppelmonarchie Österreich-Ungarn, und vor allem England, die mit ihrer Burgenrenaissance zwischen 1800 und 1900 einen neofeudalen Traum kultivieren und ihre nationale Identität immer auch noch dort suchen, tut das die Schweiz nicht, wenn auch der Freiburger Aristokrat Gonzague de Reynold in seinem Buch „Cités et Pays suisse“ 1937 schreibt: „La Suisse est au centre de l’Europe comme und forteresse à la Vauban qui dresse au milieu d’une vaste plaine des glacis gazonnées et des murailles grises.“ (S. 15). Das hübsche Bild der Festung für die Schweiz – und nicht der Burg, im Französischen château – benutzt er aber, um die berühmte Alpenfestung (das später umstrittene „Reduit“) als militärisches Aufmarschgebiet zu umschreiben.

... mit einigen Ausnahmen
Doch zurück zur vorletzten Jahrtausendwende. Nicht dass es in Helvetien um 1900 keine Burgenwiederaufbauten und Ruinenwiederherstellung gegeben hätte, es gab sie und sie ähnelten dem, was man und frau auch in den anderen Ländern bewundern konnte, aber es waren zahlenmässig weniger und sie dienten nicht der nationalen Repräsentation, sondern blieben individuelle Einzelschöpfungen von wohlhabenden bürgerlichen und einigen wenigen (neu)adeligen Bauherren, die sich selbst verwirklichen wollten. Die adeligen Burgenbauer in der Schweiz kamen, wen wundert’s, vor allem aus dem ehemals preussischen Neuenburg (die Principauté de Neuchâtel et Valangin war von 1707-1857 eine Monarchie und persönliches Eigentum von sechs Preussenkönigen gewesen und seine geadelten Patrizier blickten gerne nach Berlin). Das betrifft die Burgenrenaissance am Neuenburgersee mit dem Château Gorgier (1897) und diejenige am Thunersee mit den Schlössern Schadau (1846), Oberhofen (1850) und Hünegg (1861). Es waren, im Gegensatz zum „Dörfli“, keine nationalen Weiheobjekte. Eine Ausnahme bildet vielleicht das altsavoyische Château Chillon am Genfersee, das mit seiner denkmalpflegerisch modernen „sanften“ Wiederherstellung, die 1908 abgeschlossen war, einen neuen (antibernischen?) waadtländisch-republikanischen Kantonsstolz manifestierte. Dann gab es in Helvetien die bürgerliche Industriellen, einheimische und ausländische, darunter mehrere Frauen, die sich ein Schloss leisteten: sei es der Direktor der Société des Eaux de Neuchâtel beim Château Jeanjaquet in Cressier NE (1872), der US Industrielle Augustus Jessup auf Schloss Lenzburg AG (1893), die Industriellenerbin Adelheit Page-Schwerzmann von der Condensed Milk company bei Schloss Sankt Andreas in Cham ZG (1903) oder die Tochter eines schwedischen Unternehmers, Wilhelmina Kempe verheiratete von Hallwyl bei Schloss Hallwig AG (1904). Die Liste lässt sich verlängern. Der Erste Weltkrieg macht mit dem ganzen Burgenzauber, was Bauaktivitäten angeht, Schluss.

Ich glaube nun aufgrund meiner Forschungen sagen zu können, dass es sich bei all diese neuen Burgen und Schlösser in der Schweiz um 1900 individuelle Einzelschöpfungen handelt. Sie sind, das nebenbei gesagt, wunderbar gelungen und heute meist museal genutzt. Sie waren über ihre Initianten meist mit der internationalen Burgenrenaissance vernetzt, sind aber nicht typisch schweizerisch! Sie taugen daher auch nicht als nationale Identitätsmythen. Das erklärt sich meines Erachtens aus der Geschichte der Schweiz, die sich in ihrem Selbstbild im 18. und 19. Jahrhundert – mit Ausnahme vielleicht vom preussischen Neuenburg – gerade dem monarchistischen Ausland gegenüber bewusst republikanisch darstellt.

Die beiden Bilder „Dörfli“ und „Burg“ sind Idealbilder. Das haben sie gemeinsam. Ob sie heutzutage etwas „typisch Schweizerisches“ repräsentieren, weiss ich nicht. Vielleicht wissen das die Verantwortlichen der helvetischen Tourismusbranche, die mit beiden werben. Und offenbar erfolgreich. Was sie noch vereint, sind die Geranien im Sommer und die naturschöne Landschaftskulisse mit Bergen, Kühen und See. Sehnsuchtsbilder einer heilen Welt im Kleinen oder Grossen, an die man und frau so gerne glauben würde. Und teilhaben möchte. Jedenfalls im Urlaub. Ich auch.


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Eine Veranstaltung aus der SAGW-Reihe «La suisse existe - la suisse n'existe pas»

25. Juni 2015 – 19.00 Uhr
Schloss Holligen, Bern
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