Latein? Christliche Tradition!


Ein Gastbeitrag von Prof. Dr. Balz Engler, Basel

Braucht es ein Lateinobligatorium in den Geisteswissenschaften? Die Sache bleibt offenbar auch nach dem Berner Podiumsgespräch kontrovers. In der Diskussion werden zwei Dinge gerne vermischt, die man auseinander halten sollte: Ist ein differenziertes Verständnis unserer Kultur ohne Beherrschung des Lateins möglich? Und: Was lernt man, wenn man Latein lernt?

Ich muss gestehen: Mein Latein ist eingerostet. Die acht Jahre Unterricht, die ich am Gymnasium vielleicht nicht immer genoss, aber im Ganzen doch gerne absolvierte, kommen mir aber immer wieder zugute: Wenn ich einer lateinische Inschrift begegne, wenn ich den Bericht eines Arztes lese, wenn ein gebildeter Mensch eine lateinische Fügung verwendet, et cetera. In meinem Beruf allerdings, beim Unterricht in englischer Literatur an einer Universität, hatte ich kaum Gelegenheit, meine Kenntnisse anzuwenden, denn alle Ausgaben rechnen mit Studierenden, die des Lateins nicht mächtig sind, und die entsprechenden Stellen sind übersetzt.

Ich möchte meine Latein-Kenntnisse nicht missen, und ich bin froh,  dass ich sie während meiner Schulzeit, über einen längeren Zeitraum, erwerben konnte. Wenn ich allerdings sehe, wie Studierende, um ein Obligatorium zu erfüllen, in kurzer Zeit das Latein nachbüffeln müssen, stellen sich mir Fragen. Was bleibt davon hängen? Nicht allzu viel. Können sie das Gelernte im Studium brauchen? Gewiss ein bisschen. Hätten sie in dieser Zeit nicht etwas lernen können, was für ihr Studium wichtiger gewesen wäre? Mit Sicherheit. Was erhofft man sich von diesen Kursen? Sicher auch – trotz des grossen Bemühens der Unterrichtenden, sie attraktiv zu gestalten – eine gewisse Abschreckung: Man soll gescheiter eine Latein-Matur machen.

Etwas lässt sich in diesen Kursen ganz bestimmt nicht nachholen: das Erwerben einer Lernkultur, die traditionell zum Lateinunterricht gehört – auch das neue Latinum Electronicum dokumentiert sie. Diese Lernkultur ist wohl wichtiger als das Verständnis von Vokabeln und grammatischen Formen und trägt entscheidend zum Studienerfolg bei. Sie beruht darauf, dass man lernt, sich Regeln zu unterziehen, deren Nutzen nicht immer einsehbar ist, auf Disziplin – von der Art, wie sie junge Männer auch im Militär üben. Es ist nicht Zufall, dass der Niedergang des Lateins in der akademischen Schulung dann anfing, als zunehmend Frauen zu ihr zugelassen wurden.

Ginge es darum, sich mit den Grundlagen unserer Kultur vertraut zu machen, so gäbe es noch vieles, das allen so weiter gegeben werden müsste, wie das immer noch für das Latein gefordert wird: elementare historische, philosophische und physikalische Kenntnisse, zum Beispiel. Verschiedene Interessengruppen haben da wohl auch verschiedene Vorstellungen, und ohne die Setzung von Prioritäten geht es nicht. Ob das Latein da an die erste Stelle gehört, ist zu bezweifeln. Erstaunlich ist vielmehr: Wenn es denn um Kenntnisse in den Grundlagen unserer Kultur geht, warum wird die christliche Tradition nicht genannt? Sie hat die westlichen Kulturen seit der Spätantike geprägt. In unserer säkularen Kultur ist die Vertrautheit mit ihr allerdings geschwunden, und, wie ich aus Erfahrung weiss, nur noch fragmentarisch vorhanden. Aber natürlich bietet sich die christliche Tradition nicht an für die Entwicklung einer Lernkultur, wie das Latein sie hervorgebracht hat. Einige mögen das bedauern.




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